Sobald man offiziell Erwachsen ist, kommt schon schnell die Frage: „Lebst du noch bei deinen Eltern?“ Kein Problem, falls ja – du bist nicht allein. Und sei stolz auf dich! Du machst einen wirklich guten Job!
Wir alle haben unterschiedliche Kulturen, wie wir innerhalb unserer Familie leben. In manchen Kulturen ist es üblich, dass man auszieht, sobald man volljährig ist, während andere es nicht erlauben, das Elternhaus zu verlassen, bis sie es möchten. Es gibt hier kein richtig oder falsch, denn beide Ansätze haben ihre eigenen, berechtigten Gründe. Aber wir alle wissen, dass es eine gute und eine schlechte Seite gibt, wenn man auch wenn man schon älter ist, bei oder mit den Eltern lebt. Oder sieht ihr das anders?
Aus der Sicht einer 27-jährigen Frau, die ihre eigene kleine Familie mit einer 6-jährigen Tochter hat, muss ich ehrlich zugeben, dass ich immer noch bei meinen Eltern lebe. Einige von euch reagieren vielleicht schockiert mit „Was?!“, während andere sich vielleicht für die Gründe interessieren. Ja, es war wirklich schwer damit umzugehen, und ich hatte schon viele Gründe auszuziehen – aber ich habe es immer noch nicht getan. Warum? Ganz einfach, weil ich sie nicht allein lassen konnte. Ich habe zwei Geschwister – mein ältester Bruder, meine Schwester und dann mich. Ich bin die letzte, die alles auffangen muss, und glaubt mir, ich beginne es zu hassen, weil ich langsam ausgelaugt bin. Versteht mich nicht falsch! Ich liebe meine Eltern genauso wie meine Geschwister, aber Liebe allein reicht nicht immer.
Mehrgenerationenhaushalt
Da ich aus einem asiatischen Land komme, ist es bei uns sehr üblich, in Mehrgenerationenhaushalten zu leben. Es gibt eine Verpflichtung oder das, was wir Dankbarkeit nennen, sich um die Eltern zu kümmern, bis sie alt und grau sind. Und ich bin stolz zu sagen, dass ich das auch tun möchte, weshalb ich geblieben bin. Eine kleine Geschichte: Meine Geschwister haben ihre eigenen Familien und wohnen in den Häusern, die unsere Eltern ihnen gegeben haben. Es blieb ausser mich niemand, der sich um die Eltern kümmert.
Ich erinnere mich an einen Tag während meiner Studienzeit, als meine Eltern so beschäftigt mit unserem kleinen Laden waren, dass sie sich kein Mittagessen zubereitet hatten. Und was glaubst du? Keiner meiner Geschwister war so freundlich, nachzufragen, wie es ihnen geht oder ob sie etwas zu essen haben. Als ich um 16 Uhr nach Hause kam, hatte es mir das Herz gebrochen zu sehen, dass sie nur zwei Bananen gegessen hatten. In diesem Moment fragte ich mich: Wer wird sich um sie kümmern, wenn wir alle unser eigenes Leben führen? Werden sie allein zurechtkommen?
Ich hatte es mir anders vorgestellt
Allerdings lief es nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich dachte, sie würden ein gutes und glückliches Leben führen, da jemand da ist, der sich um sie kümmert. Aber meine Entscheidung, bei ihnen zu bleiben, wurde ausgenutzt. Ich fühlte mich mehr wie eine Haushälterin als ihr Kind. Da sie früher, als unser Geschäft florierte, eine Haushälterin hatten, waren ihre Erwartungen an mich so hoch, dass alles, was ich tun konnte, als wertlos angesehen wurde. Ich wurde erschöpft und fühlte mich vernachlässigt und zweifelte sogar daran, ob ich ausser Putzen überhaupt noch etwas anderes kann. Ich lebte ein trostloses Leben ohne Träume und ohne Richtung. Dann wurde ich Mutter.
Beschlossen zu bleiben
Und ja, ich habe mich trotzdem entschieden, bei ihnen zu bleiben. Zu sehen, wie glücklich sie mit ihrer Enkelin sind, liess mich denken, dass ich dieses Mal etwas richtig gemacht habe – etwas, das meinem Dasein einen Sinn gibt. Aber irgendwann … fühlte es sich nicht mehr so an.
Das Leben mit meinen Eltern bis heute hat mich einiges über sie gelehrt, was ich vorher nicht wusste. Ich habe sogar beobachtet, wie sich die Dynamik innerhalb der Familie wiederholt und wie toxisch es sein kann, zu viel Liebe und zu viel Schutz zu erleben. Liebe hat viele Gesichter, und ich sah sie als Narzissten. Es ist schwer, ich weiss, aber kann man sich seine Eltern aussuchen?
Erinnerungen und Erfahrungen sind wichtig
Daher kann ich sagen, dass ich auf die harte Tour gelernt habe, unabhängig zu sein. Aber diese Erinnerungen und Erfahrungen haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich habe gelernt, zu meinen Überzeugungen zu stehen, wieder zu träumen und Entscheidungen fürs Leben zu treffen. Aus meiner Sicht kann ich nicht sagen, dass ich die fast sieben Jahre verschwendet habe, denn ich liebe es immer noch, mich um sie zu kümmern und sie glücklich zu machen – besonders an Feiertagen und an ihren Geburtstagen. Ich bin immer noch dankbar für meine Entscheidung, zu bleiben. Ich habe Erinnerungen mit ihnen geschaffen und so vieles gelernt, was einem keine Bücher oder Schulen beibringen können.
Jetzt kann ich noch etwas für mein Eltern tun
Jetzt mache ich meine ersten kleinen Schritte, um meine Träume zu verfolgen, und ja, ein eigenes Haus mit meiner eigenen Familie zu haben. Was ich sagen möchte: Es gibt gute und schlechte Seiten daran, mit seinen Eltern zu leben. Aber denkt immer daran, dass wir immer eine Verantwortung ihnen gegenüber haben, da wir zuerst ihre Kinder sind. Lebt ihr noch zu Hause oder bereits woanders? Fragt sie immer, wie es ihnen geht, behandelt sie so, wie sie euch als Kind behandelt haben, liebt sie bedingungslos, kümmert euch um sie und schafft Erinnerungen mit ihnen, solange sie noch da sind. Denn eines Tages werdet ihr euch fragen, warum ihr es nicht getan habt …
Das erste Teil der Geschichte von Ashley kann man hier finden.